aufmerksam, glaubhaft

Andacht feiern mit Senioren: Lektionen, die ich heute lernte

Seit Corona finden in der Residenz keine Andachten mehr statt (genauere Angaben zu den internen Hygiene- und Alltagsregeln werde ich hier nicht treffen). Viele SeniorInnen sind weiterhin selbstständig in der Stadt unterwegs, manche besuchen auch Gottesdienste. Obwohl die meisten körperlich fit sind, bleiben sie angesichts der Lage lieber im Appartement und schauen den Gottesdienst im Fernsehen an.
Entsprechend groß ist die Freude, dass ich jetzt eine Andacht pro Monat anbiete – in zwei Durchgängen im kleinen Kreis können nur wenige teilnehmen, aber besser als nichts.
Der Gottesdienst neulich war ein echtes Highlight, über das ich hier geschrieben habe.
Heute möchte ich die Lektionen teilen, die ich in unserem Erntedank-Gottesdienst lernte. Vielleicht helfen sie anderen, die auf eigene Faust Andachten durchführen?

Der ideale Anfang: Ein spontanes Gebet, das mir direkt aus dem Herzen kommt
Die Andachten gestalte ich relativ liturgisch, das heißt durchstrukturiert mit Liedern, Gebeten, Austausch, Abendmahl usw. In meiner Gemeinde feiern wir sehr modern und frei Gottesdienst, aber den Senioren zuliebe führe ich zielgerichtet durch ein klar erkennbares Programm.
Weil es eben nicht ein völlig blutleerer Ablauf scheinbar religiöser Rituale sein soll, sondern ein Raum, um Gott zu begegnen, starte ich mit einem spontanen Gebet.
Kein Text, kein schwülstiges Gelaber, kein Kirchendeutsch, sondern einfach „Marie-völlig-unzensiert-wie-sie-mit-Gott-redet“. Dabei stehe ich vorn, schließe die Augen (um mich voll auf Gott zu konzentrieren) und halte die Hände, wie es gerade kommt. Kein Getue, bitte.

Ganz ehrlich: Ein glaubwürdiges Gebet als Anfang ist bereits 50% des Erfolgs. Wenn ich hier authentisch starte, öffne ich den Raum für eine intensive Gemeinschaft. Wenn ich dagegen einen fertigen Text ablese, lassen sich die SeniorInnen einfach nur berieseln, statt innerlich beteiligt zu sein.

Entspannt bleiben, wenn es anders läuft, als geplant
Als alter Hase im freikirchlichen Bereich weiß ich natürlich, wie der ideale Erntedank-Gottesdienst abläuft (Scherz!):
Alle überlegen vorher, wofür sie dankbar sind, und bringen ein symbolisches Beispiel für ihren Dank mit. Dann marschieren alle in einer nicht enden wollenden Kette nacheinander auf die Bühne bzw. zum Altar, um dort am Mikro zu erzählen und zu zeigen, wofür sie Gott danken. Das ist für mich Erntedank: Zu hören, wie Gott im Leben der anderen wirkt und was sich die letzten Monate zum Positiven verändert hat!
In einem klassischen evangelischen oder katholischen Gottesdienst passiert das natürlich nicht, und wenn überhaupt, dann nur inszeniert und zensiert und vorher abgesprochen.
Tja, ich bin keine offizielle Pastorin, also brauche ich mich nicht an die Regeln halten und rocke einfach mein eigenes Ding. Entsprechend informierte ich die SeniorInnen über Aushänge, dass sie sich vorher Gedanken machen sollen und gern ein Symbol mitbringen können.
Nun ja.
Erstens sind die SeniorInnen hochbetagt, sie machen nicht jeden Quatsch mit.
Zweitens sind sie HamburgerInnen, die überlegen es sich doppelt, bevor sie den Mund aufmachen und etwas Persönliches erzählen.
Drittens sind sie aus keiner Freikirche, also erwarten sie, dass ich vorne stehe und predige, nicht dass sie mit ihren Erlebnissen für die Aussage von Erntedank zuständig sind.

Es kam, wie es kommen musste:
Die Dankbarkeits-Runde erwies sich in Andacht 1 wie Andacht 2 als eher schleppend. Aber es gab Fotos von verstorbenen Ehemännern, Kuscheltiere, Engel, mitgebrachte Brötchen und Gläser mit sauren Gurken. Auch, wenn kaum jemand den eigenen Gegenstand vorn auf dem improvisierten Erntedank-Tisch sehen wollte und ich manche Geschichte erst im Nachhinein hörte, als die anderen gegangen waren. Dennoch konnten sie sich mit den Geschichten der Mutigen, die sich zu Wort meldeten, identifizieren.
Und für’s nächste Mal wissen sie hoffentlich, dass es nicht wehtut, wenn Marie „zu seltsamen Einfällen“ auffordert.

Das Singen von alten Chorälen macht den Senioren wirklich sooooooo viel Freude
Seit ich in einer mega hippen Großstadt-Gemeinde zu Hause bin und nach über zwölf Jahren nicht mehr zu einer hanseatischen Traditionskirche gehöre, singe sogar ich gerne mal einen alten Choral. Früher fand ich die Uralt-Kirchenlieder oft abturnend, heute kann ich sie zwischen all dem lauten Schlagzeug wieder schätzen.
Die SeniorInnen, die seit März keine Andacht mehr hatten, genießen es unwahrscheinlich, wenigstens im kleinsten Kreis zusammen singen zu können. Klar singen die Leute im Fernsehen im Gottesdienst auch. Aber es ist einfach etwas anderes, zusammen zu singen. Egal, ob ich einzelne schiefe Stimmen sehr klar heraus höre: A capella (also ohne Begleitung durch ein Instrument) einfach unsere Stimmen zu einem Gesang verschmelzen zu lassen, hat eine ganz besondere Kraft.

Natürlich freuen sich alle, wenn sie das Lied kennen, wobei ich dafür einen Trick anwende:
Ich blättere durch das evangelische Gesangbuch und wähle Lieder aus, die ich einerseits kenne und die andererseits thematisch gut passen. Dann suche ich mir ein Opfer unter den Seniorinnen aus und rufe an: „Frau Malligsen, haben Sie mal fünf Minuten Zeit für mich? Ich suche die Lieder für die Andacht zusammen und will nur wissen, ob sie auch bekannt sind.“ Dann singe ich der Dame einfach formlos einen Liedanfang nach dem anderen vor, und sie braucht nur „Kenn ich“ oder „Kenn ich nicht“ sagen. Schon habe ich meine Liedauswahl abgesichert und sie fühlt sich hilfreich – zwei Leute in fünf Minuten am Telefon glücklich gemacht. Was will ich mehr?

Abendmahl feiern ist viel wichtiger als gedacht
Für mich war das Abendmahl, das wir in meiner Gemeinde „nur“ ein Mal im Monat feiern, lange Zeit nicht besonders bedeutungsvoll. Eher langweilig und nichtssagend. Es hat viele Jahre gebraucht, bis ich es genießen konnte.
Im Gottesdienst neulich in der Residenz habe ich bereits erlebt, wie unfassbar wichtig es den SeniorInnen ist, miteinander Abendmahl zu feiern. Selbst, wenn sie alle auf Abstand an einzelnen Tischen sitzen. Selbst, wenn das Abendmahl (bestehend aus Kürbisbrötchen und Traubensaft) bereits relativ formlos vorbereitet am Platz wartet, statt gemeinschaftlich verteilt zu werden. Egal. Abendmahl ist Abendmahl, das hat für alle eine große Bedeutung.
Auch, dass ich die klassischen „Einsetzungsworte“ vorlese, hat einen hohen Wert. Manche sprechen sie leise mit, und für alle ist eindeutig wichtig, dass das Abendmahl auf eine würdige und klassische Weise abläuft. Bereits vergangenen Monat rollten dabei Tränen.

Heute dachte ich spontan, dass es doch eigentlich schön wäre, vor dem Abendmahl eine Gebetsgemeinschaft zu haben: Darin können sich alle mit eigenen Anliegen beteiligen.
Ich regte an, dass wir sowohl für uns und die Welt bitten können, als auch innerlich im Schweigen den Teil der „Buße“ vor dem Abendmahl vollziehen können. Liturgische Buße in einem katholischen Gottesdienst bringt mich kurz davor, mich im wahrsten Sinne des Wortes übergeben zu müssen. Insofern bin ich heilfroh, in einer Freikirche nicht derart vergewaltigt zu werden, indem ich die Worte irgendeines Priesters zum Thema „Buße“ mitsprechen soll. Aber plötzlich hatte ich den Eindruck, dass es gut wäre, die Anwesenden anzuregen, einfach still mit Gott Frieden zu machen.
Dazu ging ich natürlich mit gutem Beispiel voran und betete spontan erst um Weisheit für PolitikerInnen in der aktuellen Situation usw. usf. und schwenkte dann um auf „Und du weißt auch, Gott, wo mir manchmal die Weisheit fehlt. Wo ich mich blöd verhalte und andere verletzte. Wo ich anderen etwas schuldig bleibe…“
Daraufhin schloss eine Dame tränenüberströmt ihr eigenes Gebet an. Und eine weitere Dame fand sich ebenfalls in dem „Buß-Gedanken“ sehr wohl und betete laut.

Tja.
Hätte ich nie geahnt, dass Menschen erstens freiwillig und zweitens laut vor allen anderen sagen, dass ihr Verhalten im Alltag nicht hundertpro super ist.
Und dass sie es genießen, dass dafür Raum ist.
Ich fühle mich bei Bußgebeten irgendwelcher Priester immer vergewaltigt – wie gut, dass ich in diesem Moment auf Gott hörte und der Gruppe das gab, was sie brauchte. Und wenn das nun ausgerechnet völlig unsexy Buße ist – bitteschön.
Alle bekommen, was sie brauchen.

Die Gemeinschaft im Gottesdienst lässt alle erkennen, dass sie Kinder Gottes sind. Zusammen.
Den Senioren war es dieses Mal noch wichtiger als letzten Monat, mir mitzuteilen, wie sehr sie meine Gestaltung der Andacht genießen. Da ich komplett unzensiert und spontan laut bete, erleben mich die BewohnerInnen aus einem ganz anderen Blickwinkel als sonst. Noch persönlicher, noch verletzlicher, noch ehrlicher. Das führt unter einander zu einer großen Offenheit und einem Gemeinschaftsgefühl, das ohne meinen Mut zu Authentizität nicht möglich wäre.
Natürlich entfaltet es auch eine Wirkung, wenn ich sage „Wir alle sind Gottes geliebte Kinder, seine Königskinder. Auch, wenn uns das im Alltag nicht bewusst ist. Und wir uns mit unserem Glauben manchmal verloren und ratlos fühlen: Niemand kann es uns nehmen, Königskinder zu sein und zu einander und zu Gott zu gehören.“


Jedenfalls wurde ich sooooo sehr für meine Offenheit beschenkt, wie noch nie zuvor:
Die SeniorInnen dankten mir sehr ausführlich für meinen Mut, meine Ehrlichkeit, mein Feingefühl. Mehrfach wurde betont, wie „würdig“ ich den Gottesdienst gestaltet hätte – wahrscheinlich, weil ich sonst als leibhaftige Gute-Laune-Frau durch die Gänge sause und mich wirklich absolut niemand für würdevoll hält.
Am Ende teilte ich allen noch einen handgeschriebenen (und vervielfältigten) Brief von Gott an jede Einzelne aus. Tags darauf kam eine Dame auf mich zu und sagte, wie erstaunt sie gewesen sei, als der angekündigte Brief wirklich handschriftlich war. Und wie sehr sie die Botschaft berührt hätte.
Sogar eine Kollegin, die nichts mit dem Glauben zu tun hat, meinte, dass „den Senioren derzeit eigentlich zwei Mal Andacht pro Monat gut täte“.

Wie eine Freundin die Tage so schön sagte: „Gott lässt sich nichts schenken. Er zahlt es uns hundertfach zurück.“
Amen dazu.

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Ehrenamtlich helfen: Ideen zum Bewerbungstraining mit Flüchtlingen

 

Meinen freien Tag heute habe ich spontan für eine Runde „Marie spielt Karriere-Beraterin und Job-Center-Beamtin“ geopfert, da „mein“ Flüchtling mich anschrieb und um Hilfe zum Bewerben bat.
So von jetzt auf gleich fiel mir auch erstmal nichts ein.
Aber dann kamen mir doch einige Ideen, die ich gerne teilen möchte:

  • Viele Flüchtlinge kommen aus Regionen mit instabiler Wirtschaft. Das heißt, dass es kaum Ausbildungen und Studiengänge gibt, und diese wiederum nur einer kleinen Oberschicht offen stehen. Entsprechend haben die Flüchtlinge nie eine Woche „Berufsorientierung“ in der Schule erlebt. Und mit den tausenden von Berufsbezeichnungen in Deutschland können sie wenig anfangen. Wie sollen sie also wissen, was sie können und welche persönlichen Qualitäten sie jenseits der Sprachbarriere einbringen können?
    Ich finde es sehr sinnvoll, darüber ins Gespräch zu kommen, worin die eigenen Stärken liegen. Was sie einerseits gern machen und andererseits gut können. Und wie diese Kompetenzen an den Sprachbarrieren vorbei zielführend eingesetzt werden können.
  • Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen erscheinen unregelmäßig Sendungen mit dem Titel „7 Tage“. Dafür ist jeweils einE JournalistIn eine Woche lang unterwegs, um eine neue Umgebung zu entdecken. Sie probieren einen Beruf aus, leben in einer anderen Religion, tauchen in ein unbekanntes soziales Milieu ein. Die Dokumentationen laufen eine halbe Stunde, sind interessant und unterhaltsam. Wer einigermaßen deutsch spricht, lernt auf diese Weise viel über Berufe und über die Mentalität der Menschen, die sie ausüben.
    Hier einige Beispiele: Sieben Tage bei der Feuerwehr, Sieben Tage unter Bademeistern, Sieben Tage am Filmset, Sieben Tage Pflege daheim, Sieben Tage unter Spitzenköchen.
    Jenseits von Job-Center und Leistungsdruck können sich Flüchtlinge so einen Einblick in unsere Arbeitswelt verschaffen und gleichzeitig ihr Hörverständnis trainieren.
    Hier wird eine Übersicht der Themen gezeigt.
  • Plattformen für Studenten-Jobs bieten oft Tätigkeiten an, die ungelernt geleistet werden können. Manche Unternehmen beharren aus steuerlichen Gründen auf einen Studenten-Status. Aber auch viele Zeitarbeitsfirmen suchen auf diesem Weg nach Arbeitskräften. Ich rief spontan zwei Unternehmen an, die beide offen für „meinen“ Eritreer waren und bei denen er sich morgen gleich vorstellt.
    Der Trick ist natürlich, dass sie als ersten Eindruck mein perfektes Deutsch sowie meine Empfehlung haben. Hätte er sich mit gebrochenem Deutsch am Telefon selbst gemeldet, wäre es wahrscheinlich nicht so schnell zur Einladung gekommen…
    Für den Hamburger Raum empfehle ich das „Stellenwerk“ für ungelernte Jobs und Praktika aller Art.
  • Wer kennt wen, die oder der im gewünschten Arbeitsbereich Erfahrungen hat?
    Wenn Flüchtlingen sich mit ihren geringen Sprachkenntnissen und ihrer dunklen Hautfarbe bewerben, macht sich kaum jemand die Mühe, einen Blick zu riskieren oder sogar ein Vorstellungsgespräch einzuleiten. Hat keine Berufserfahrung, ist nicht deutsch, sieht fremd aus, brauchen wir hier nicht. Fertig.
    Wenn ich aber eine KFZ-Mechanikerin, einen Krankenpfleger oder einen Fliesenleger kenne, denen ich „meinen“ Flüchtling persönlich empfehle, sieht die Lage schon ganz anders aus. Wenn ich die Person empfehle und betone, dass ich sie als freundlich, zuverlässig und interessiert erlebe, ist dieser Vertrauensvorschuss Gold wert. Also, wer kennt wen, und sei es über drei Ecken?