Jeder Arbeitsplatz beeinflusst die eigene Identität. Einerseits natürlich durch die Zeit, die wir dort täglich verbringen: Niemand kann unbeeinflusst den Arbeitsalltag an sich vorbei ziehen lassen. Unsere Aufgaben, die Kolleginnen und das Klima der Firma prägen uns. Andererseits entwickeln wir uns durch diese Einflüsse im Laufe der Zeit weiter. Wir verändern uns durch die positiven Vorbilder ebenso wie durch abschreckende Beispiele im Team. Wir wachsen mit den Herausforderungen oder suchen uns selbst welche. Wenn wir den Arbeitsplatz wechseln, nehmen wir die Erfahrungen und inneren Veränderungen mit. Ich möchte heute davon erzählen, wie mich die Arbeit in einer Senioren-Residenz bisher beeinflusst hat.

Im Urlaub kümmere ich mich um seniorentaugliche Bilder, um zurück im Alltag einen fotografischen Reisebericht moderieren zu können.
Schon vor einem Jahr ging es los: Plötzlich hielt ich im Urlaub Momente fest, die ich für meine private Erinnerung nie fotografiert hätte. Komische Szenen im Alltag der Landesbewohner, Chaos der Doppeldeckerbusse, seltsame Entdeckungen im Supermarkt: Alles, was eine lustige Anekdote bietet, lichte ich ab, um damit später einen unterhaltsamen Nachmittag in der Residenz zu gestalten. Um die Leinwand voll auszunutzen, gewöhnte ich mir sogar Fotos im Querformat an, dabei fotografiere ich am liebsten hochkant, um immer ein Stück Himmel mit drauf zu haben. Der absolute Höhepunkt war bisher mein Reisebericht aus Finnland: Da ich kurz vorher die Verlagsbewerbungen meines Fachbuchs verschickt hatte und gerade erste Angebote für mein Manuskript bekam, war ich nach dem aufreibenden Marathon total erschöpft. Parallel zum Job ein Buch über Atemgymnastik mit Senioren zu konzipieren, hatte mich ausgelaugt – ganz besonders das PR-Coaching und die anspruchsvolle Verlagsbewerbung. Daher bestand ein Großteil der zwei Wochen Urlaub daraus, dass ich im Garten „unseres“ finnischen Sommerhauses saß und las. Dabei entstanden natürlich keine spannenden Fotos, aber ein tiefer Friede zog in mein Herz. Entsprechend versuchte ich, diesen umfassenden Frieden zurück in Hamburg für die Senioren in meiner Moderation zu beschreiben. Nach dem letzten Bild war es mucksmäuschenstill, anschließend brach ein donnernder Applaus aus und die BewohnerInnen dankten mir unter Tränen für die emotionale Darstellung.
Daher halte ich in jedem Urlaub wieder besondere Eindrücke für die Senioren fest und achte darauf, neben meinen privaten künstlerischen Aufnahmen auch sehr klare, einfache Bilder für die Sehgeschädigten aufzunehmen. Auch, wenn ich mich in meinem privaten Urlaub eigentlich amüsieren und erholen sollte…

Ich habe immer weniger Lust darauf, alt zu werden
Täglich höre ich Klagen, was alles wehtut. Und wie wenig die Tabletten helfen. Und wie wenig das den Hausarzt interessiert. Und welche letzte Weggefährtin neulich verstorben ist. Und wer alles alkoholkrank ist. Und wer endgültig keine Lust mehr auf´s Leben hat. Und wer wieder einmal darüber nachdenkt, auf welche Weise nachzuhelfen…
Neee, ganz ehrlich, mit SeniorInnen im Alltag unterwegs zu sein, ist nun wirklich nichts, was Lust auf die letzte Lebensspanne macht! So unzensiert den ganzen Sch*** erzählt zu bekommen, von allen Hochaltrigen einzeln, lässt mich auf einen plötzlichen Tod aus heiterem Himmel mit Anfang Siebzig hoffen. Weder körperliche Gebrechen noch geistigen Abbau wünsche ich mir, darin bestärken mich die Augenzeugenberichte der Achtzig- und Neunzigjährigen immer wieder!
Sterben ist mir völlig egal
Okay, da ich an Gott glaube und der Meinung bin, „dass das Beste noch kommt“, hatte ich noch nie Angst vor dem Tod. Auf mich wartet eine göttliche Dauerparty im Himmel, wovor sollte ich mich fürchten? The best is yet to come! Aber wenn rechts und links Menschen sterben, ist das natürlich etwas Anderes. Noch mehr, wenn das regelmäßig passiert. Zum Glück baue ich dennoch mit allen BewohnerInnen eine herzliche persönliche Beziehung auf, ich habe keinerlei Angst, dass sie morgen tot sind und ich deswegen traurig. Denn: Mich kratzen die Toten überhaupt nicht. Klar, wenn sich eine besonders fitte Dame, die sich tatkräftig im Haus einbringt, plötzlich das Leben nimmt, muss ich auch schlucken. Oder wenn von jetzt auf gleich eine Dame, die eben noch in einer meiner Veranstaltungen saß, tot im Appartement gefunden wird. Natürlich habe ich für einen Moment einen Kloß im Hals. Aber geweint habe ich deswegen noch nie, und über einen kurzen Moment hinaus aufgewühlt bin ich auch nicht. Bei 95% der Toten bin ich einfach nur froh, dass sie die letzte Etappe endgültig hinter sich gebracht haben. Egal, ob sie sich lange krank gequält haben oder innerhalb eines Wimpernschlags abgetreten sind: Sie haben es geschafft, juhu! Entsprechend irritiert werde ich angeschaut, wenn eine Kollegin sagt „Frau Jepsen ist verstorben“ und ich antworte: „Schön, dann hat sie´s ja kurz und knackig ohne weiteres Leiden hinter sich gebracht.“

Ich mag auf einmal Kunstblumen
Am Anfang fand ich es noch sehr gewöhnungebedürftig, die saisonale Dekoration der Residenz mit Kunstblumen zu gestalten. Da ich Erfahrungen in der Event-Floristik gesammelt habe, waren Plastikblumen zuerst „ästhetisch unmöglich zu ertragen“. Aber wie es mit der Mode so ist: Erst finden wir es schrecklich, dann gewöhnen wir uns dran, und später kaufen wir uns bestimmte Kleidungsstücke sogar freiwillig. Genauso hat sich meine Einstellung zu Kunstblumen gewandelt, und das Schlimmste ist: Selbst für den privaten Gebrauch finde ich Plastikblumen inzwischen vertretbar. Hilfe! Wer hat mir den guten Geschmack gestohlen?
Zuerst kleidete ich mich super konservativ, jetzt immer wilder
Zu Beginn war es mir total wichtig, für die BewohnerInnen und Kolleginnen korrekt gekleidet zu sein. Ich fragte mich sogar im ersten Sommer, ob ich wohl Tops mit Spagetthiträgern tragen kann… Denn einerseits soll ich optisch einer gehobenen Residenz entsprechen, die ich als Angestellte repräsentiere. Andererseits sind da die moralischen und ästhetischen Erwartungen, die die BewohnerInnen haben. Täglich wird meine Kleidung genauestens beobachtet, analysiert und bewertet. Inzwischen trage ich das, worauf ich Lust habe, und an bestimmten Tagen absichtlich etwas besonders Ausgefallenes. Wenn sie was zu reden haben wollen, liefere ich ihnen gern eine Grundlage für den täglichen Klatsch und Tratsch! Sie zerreißen sich so oder so den Mund über mich, dann soll es sich doch wenigstens lohnen. Bitteschön, gern geschehen!
