aufmerksam, feminin, glaubhaft

Buchempfehlung: „Regretting Motherhood: Wenn Mütter bereuen“ von Orna Donath

Ich habe keinerlei Kinderwunsch, entsprechend finden „unkonventionelle Diskussionen“ über „ungewöhnliche“ Lebensentwürfe, Familienpolitik und Geschlechterrollen bei mir meist Interesse und Wohlwollen. Natürlich gibt es auch Themen, die ich in Bezug auf Kinderwunsch und -erziehung schwierig finde. Da ich mich jenseits des „Du bist jung und gesund, gebär Kinder für Deutschlands Zukunft und um endlich deine Bestimmung als Frau zu finden“-Diktats bewege, sehe ich vieles offener als andere.
Entsprechend hat mich die Diskussion über „Regretting Motherhood“ (also Frauen, die bereuen, Kinder bekommen zu haben), überhaupt nicht schockiert: Ich finde es völlig naheliegend, dass es Mütter gibt, die nach der Geburt des ersten Kindes glücklich sind – genauso wie Mütter, die mit ihrer neuen Rolle hadern und nicht derart im veränderten Alltag aufgehen, wie es die Klischees darstellen. Würde ich schwanger werden, würde ich es jede einzelne Sekunde bereuen, sobald sich der blaue Strich auf dem Schwangerschaftstest zeigt. Da ich das hundertprozentig weiß, passe ich auf, dass es niemals dazu kommt.
Doch was, wenn Mütter dachten, sie würden sich über Nachwuchs freuen und sich dann in einer ganz anderen Wirklichkeit wiederfinden?

 

 

Haus am Deich

 

Orna Donath, eine israelische Wissenschaftlerin, hat 2008 erstmals begonnen, „dem Unausgesprochenen Raum zu geben“. Denn das etwas so Naturgegebenes wie die Mutterschaft die Frauen mit vielen Ambivalenzen und auch Ablehnung der eigenen Rolle erfüllt, durfte bis vor Kurzem einfach nicht gesagt werden. Weil es nicht gibt, was es nicht geben darf. In „Regretting Motherhood: Wenn Mütter bereuen“, dem vertiefenden Buch zur Studie, schreibt sie:

Welches Land ich auch betrachtete, das Bild blieb immer dasselbe: Frauen gebären, ziehen Kinder groß, nehmen die ungeheuren Mühen der Mutterschaft auf sich, aber dass sie diese bereuen könnten, kommt kaum jemals zur Sprache. (…)
Die durchgängige Botschaft lautet: Wenn du über 30 bist, wird dein Zeitfenster für die Gründung einer Familie allmählich kleiner. Du glaubst vielleicht immer noch, dass dich das nichts angeht, aber du täuschst dich; der Wunsch danach wird dich irgendwann überfallen, aber dann wird es zu spät sein: >Das wirst du noch bereuen!<
Wenn eine Gesellschaft die Nichtmutterschaft als einen gefährlichen und höchst bedauernswerten Zustand darstellt, kann sie damit einen Rahmen festlegen, der die Erlebniswelt von Frauen begrenzt, ohne Rücksicht darauf, dass deren subjektive Erfahrungen viel komplexer sind und weit darüber hinausgehen, als diese simple Behauptung erkennen lässt. Und während dieses Verwirrspiel aus Drohungen und Warnungen permanent gegen viele Frauen eingesetzt wird, wird die Kehrseite der Medaille verschwiegen: Die Stimmen derer, die ihre Mutterschaft im Nachhinein bereuen, bleibt ungehört, und weil sie nicht gehört werden, wird einfach angenommen, dass es sie nicht gibt.(…)
Ob der Partner manifesten, latenten oder unsichtbaren Druck ausübt, oft bleibt der traditionelle gegenderte Status quo erhalten, nach dem vor allem Männer profitieren, wenn der ursprüngliche Wunsch der Frau, nicht Mutter zu werden, unsichtbar oder ungehört bleibt und andere Familienmitglieder sich mit ihren Vorstellungen durchsetzen. Ihr Wünsche bleiben unausgesprochen oder ungehört, während der Partner zum >Familienboten< wird, der die >kanonische Geburtsbotschaft< überbringt. Hier geht es also um die direkten Machtverhältnisse in der Partnerschaft; da werden zuweilen sogar ungeborene Kinder als Machtmittel und Verhandlungsargument eingesetzt, sodass es zu Entscheidungen kommt, die die Beziehung aufrecht erhalten und die Kontinuität sichern. (…)
Dass diese Erfahrung weder gesehen noch verstanden wird, geht auf die gebetsmühlenartige Wiederholung der gesellschaftlichen Botschaft zurück: Frauen, die nicht durch das schwanger werden, was man gemeinhin unter Vergewaltigung (also körperlicher Gewaltanwendung) versteht, wurden es aus freier Entscheidung, nach ihren Wünschen und Vorstellungen. (…)
Frauen willigen gegen ihren Willen ein, wenn sie zu gegebener Zeit gezwungen sind, pragmatisch zwischen einer aus ihrer Sicht schlechten Option – schwanger werden und ein Kind bekommen – und einer noch schlechteren Option wählen müssen, nämlich Scheidung oder Obdachlosigkeit, Schmähung durch die Familie oder die Gemeinschaft oder finanzielle Abhängigkeit.“

 

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Mutterschaft ist keine Privatsache. Mütter stehen permanent und restlos in der Öffentlichkeit. Tagtäglich bekommen Mütter zu hören, dass sie alles, was eine Mutter braucht, von Natur aus mitbringen und somit instinktiv wissen, was zu tun ist. Doch gleichzeitig wird ihnen von der Gesellschaft genau vorgegeben, wie sie die Beziehung zu ihren Kindern zu gestalten haben, um als „gute Frau“ und „gute Mutter“ zu gelten, also als Mensch und als moralische Instanz.
Dabei schreibt das gängige Modell, das das öffentliche Bild von einer Mutter in heutigen westlichen Gesellschaften prägt, die Versorgung der Kinder fast ausschließlich der Mutter zu. Dieses vorherrschende Modell verlangt von Müttern, sich vollständig auf ihr Kind zu konzentrieren, sich emotional-kognitiv einzubringen und eine zeitaufwändige Betreuung zu leisten. Diesem Bild zufolge sind Mütter von Natur aus aufopfernd, arbeiten fortwährend an sich, um immer besser zu werden, und widmen sich mit endloser Geduld derart ergeben der Fürsorge anderer, dass sie darüber beinahe vergessen müssen, dass sie selbst auch noch eine Persönlichkeit und eigene Bedürfnisse haben. (…) Dieser Erwartung zufolge liebt die „gute Mutter“ jedes ihrer Kinder bedingungslos und ohne Einschränkung (sonst ist sie „unmoralisch“); sie ist anmutig wie eine Madonna, wenn nicht sofort nach der Geburt, dann wenigstens mit den Jahren; und wenn eine Mutter auch nicht auf Rosen gebettet ist, so ist es für sie doch Ehrensache, die Strapazen, die ihre Lage nun einmal mit sich bringt, freudig auf sich zu nehmen, schließlich handelt es sich um ein notwendiges, unvermeidliches Übel auf ihrem Lebensweg. (…)
Es zeigt sich, dass die Reglementierung von Muttergefühlen, wie sie hier deutlich wird, mit kulturellen Vorstellungen von Zeit- und Erinnerungsregelementierungen in Verbindung gebracht wird, denn Müttern wird nicht nur diktiert, wie sie fühlen sollen, sondern auch noch, woran sie sich erinnern und was sie vergessen sollen.“

 

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Während sich viele Mütter in der ersten Zeit nach der Geburt unterschiedlichen Herausforderungen gegenübersehen, die nach und nach weniger werden können, wenn sie die Situation zum Besseren entwickelt, beschreibt Reue eine emotionale Haltung gegenüber der Mutterschaft, die sich im Laufe der Zeit nicht ändert und auch nicht bessert. (…)
Es gibt zahlreiche Zeugnisse darüber, dass die Mutterschaft die physische und mentale Gesundheit von Freuen beeinträchtigen kann: Krankheiten, Depressionen, Erschöpfung, emotionale Krisen, körperliche Schäden und der Verlust des gesellschaftlichen Status sind nur einige Beispiele für die Erfahrungen, die Frauen sogar noch Jahre nach der Geburt ihrer Kinder machen. Doch obwohl diese Zusammenhänge schon seit geraumer Zeit bekannt sind und ständig um neue Erkenntnisse dazu erweitert werden, sind sie nicht in der Lage, die mythische Vorstellung zu untergraben, dass Mutterschaft – selbst wenn sie mit einer Krise beginnt – irgendwann unvermeidlich zur Anpassung und letztlich zu einem Happy End führen wird. (…)
Mütter bleiben zu Hause, Väter können gehen, wann immer sie wollen.
>Väter spüren die Anstrengungen, aber bei ihnen ist es noch viel akzeptierter, dass sie die Flucht antreten. Studien belegen, dass Väter nach der Geburt eines Kindes plötzlich deutlich mehr Überstunden machen und sich neue Hobbys suchen – um abends und am Wochenende möglichst wenig verfügbar zu sein. Das betrifft natürlich nicht alle. Aber sie spüren, wie anstrengend es ist, wenn da plötzlich ein Kind ist. Sie versuchen, sich selbst rauszunehmen. Das ist sozial akzeptiert. Wenn die Mutter hingegegen sagt: „Ich mache heute Yoga , morgen gehe ich mit Freundinnen etwas trinken“ – da würde sich jeder wundern, was mit der los ist.< „

 

 

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aufmerksam, glaubhaft

Das große MUSS und das kleine kann

Gestern entwickelte sich ein Gespräch über meinen Abschied aus dem logopädischen Beruf und mein „experimentelles Jahr“ 2015, indem ich nur das arbeitete, was ich wirklich wollte. Ich sprang als Quereinsteigerin in das Event-Business und war (bzw. bin) im Rahmen von Events für Kinder sowie in der Event-Floristik tätig. Parallel arbeitete ich hilfreiche Lektüre durch und entwickelte einen ganz neuen Blick auf das tägliche sowie das Erwerbsleben. Ich besuchte Seminare, bot Workshops an, gestaltete Veranstaltungen und sammelt viele Inspirationen. Täglich schwamm ich mich von meinem eigenen, alten Ich ein Stück weiter frei.

Das gestrige Gespräch erinnerte mich an einen entscheidenden Wendepunkt in meinem Leben, als ich über das MÜSSEN nachdachte.
Ich muss Geld verdienen (und damit Rechnungen begleichen, Steuern zahlen, etc.), ich muss mich gesund ernähren und ausreichend schlafen. Sicher können noch zwei, drei Beispiele hinzugefügt werden, aber der Punkt ist: Wer sich in Ruhe überlegt, was sie / er tun MUSS, dem fällt bei ehrlicher Beantwortung auf, dass es überraschend wenig Dinge sind. Alles andere sind Punkte, in denen wir uns verpflichtet fühlen, sie zu tun: Unserem eigenen Anspruch gegenüber, unseren moralischen Grundsätzen entsprechend, um anderen zu gefallen, um den Lebensstandard zu halten usw.
Aber wenn es darauf ankäme, das Leben in ein Destillat einzudampfen, dann wären es knapp eine Handvoll Tätigkeiten, die wir tatsächlich MÜSSEN. Alle anderen Verpflichtungen sind bei genauem Hinsehen freiwilliger Natur. Weil wir uns einmal dazu entschieden haben, oder weil wir gar nicht auf die Idee kommen, sie aufzugeben. Oder weil wir lieber den Erwartungen und Anforderungen anderer an uns folgen, als uns den Weg in die Unabhängigkeit zu bahnen.
Für mich war diese Erkenntnis sehr befreiend.
Allein durch dieses rationale Experiment entsteht plötzlich eine Fülle an ungeahnter Freiheit.

Wir erwachsenen Deutschen sind so sehr mit dem beschäftigt, was wir glauben tun zu MÜSSEN, dass alles andere in den Hintergrund gerät. Wenn wir alles abgearbeitet haben, was wir in dieser Stunde / diesem Tag / dieser Woche / diesem Monat / diesem Jahr tun MÜSSEN, dann können wir uns auf das Können und Wollen konzentrieren.
Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.
Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.
Bedauerlicher Weise sind wir nach all dem Rackern gar nicht mehr in der Lage, zu schauen, was denn das verbliebene, verschobene Vergnügen wäre. Nicht umsonst sind die erschreckenden Zahlen von Burn-Out und Depressionen in Deutschland so hoch, weil unsere ureigenen Bedürfnisse unter dem Zement der Anforderungen und Erwartungen begraben werden.
Und weil wir das Müssen für wichtiger, drängender und relevanter halten als das Wollen.
Was musst du?
Geld verdienen, essen, duschen, schlafen. Ein Mindestmaß an Hausarbeit, damit wir uns in den eigenen vier Wänden wohl fühlen und saubere Kleidung tragen.
Und sonst?
Was musst du?
Und was glaubst du nur, das du musst, weil andere dich dazu gebracht haben? Diese Liste wird wesentlich länger sein als die des tatsächlichen Müssens.
Wer offen darüber sinniert, wird feststellen, dass es nicht das große MÜSSEN und das kleine wollen gibt. Verglichen mit all den Tätigkeiten, mit denen wir uns auf Trab halten und auf Trab halten lassen, ist das müssen das Kleine und das WOLLEN das Große.

Diese Perspektive erleichtert ungemein, bedeutet aber, unsere Träume als Pflicht uns selbst gegenüber ernst zu nehmen. Love it – change it – or leave it. Liebe es – ändere es – oder verlasse es. Es liegt in deiner Hand.

 

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