aufmerksam, glaubhaft

Mut in Krisenzeiten: Die Kontrolle abgeben, statt es allein schaffen zu wollen

Abends war ich mit dem Stand Up Paddle Board unterwegs auf der Alster und schon fast wieder zurück an meinem Lieblingssteg. Ich mag es, entspannt auf dem Board zu sitzen, mich treiben zu lassen und den Moment zu genießen. Plötzlich frischte der Wind auf, trieb mich ein gutes Stück ab und brachte die schlafende Haubentaucherfamilie in der Nähe durch die Wellen zum Tanzen. Sie ließen die Köpfe zwischen die Flügel gesteckt und schlummerten völlig unbeeindruckt weiter.
Nachdem ich mich selbst wieder auf Kurs gebracht hatte, sinnierte ich darüber, dass die Haubentaucher ausgerechnet auf dem Wasser am Sichersten sind. Es ist kalt, nass und ungeschützt, und dennoch schlafen sie auf den Wellen statt einem umgekippten Baumstamm am Ufer oder in einem Gebüsch. Bemerkenswert! Ich würde wohl lieber über Nacht einen Unterschlupf in dichter Vegetation suchen, statt mitten auf dem See zu dümpeln.

Aber im Unterholz könnten die Mutter und ihr Junges von einem Fuchs angegriffen werden, sodass die scheinbar unkontrollierbare Situation auf dem Wasser deutlich vorzuziehen ist. Das erinnerte mich an die Geschichte, wo die Jünger mit Jesus unterwegs auf dem See Genezareth sind und ein schwerer Sturm aufkommt. Jesus schläft völlig entspannt weiter, während die Fischer ausflippen. Als sie ihn wecken und mit ihren Vorwürfen konfrontieren, dass er sie im Stich gelassen hätte, bleibt er ruhig, befiehlt dem Sturm, sich zu legen und erklärt den Männern, dass sie nie in Gefahr waren. Das finde ich schwer zu glauben, denn auch ich kenne Situationen, bei denen mir scheinbar die Wogen über dem Kopf zusammenschlagen und ich mich komplett hilflos fühle. Egal, wie sehr ich nach außen versuche, ruhig zu erscheinen und mich selbst in Geduld zu üben (denn bisher hörte jede beknackte Phase früher oder später auf) – in mir drin tobt dennoch ein Unwetter aus Angst, Frust, Sorgen und Befürchtungen.

Ausgerechnet auf dem Wasser treibend auszuruhen wie ein Haubentaucher ist in solchen Momenten das Letzte, was ich wählen würde. Und doch versichert Gott uns, dass wir bei ihm sicher sind, egal, wie verrückt und gefährlich es aussehen mag. In der größten Unsicherheit versuchen wir, uns noch mehr anzustrengen, noch mehr zu leisten, einen noch besseren Weg zu finden, das alles überschattende Problem zu lösen. Mag sein, dass manches davon hilft, aber unsere innere Unsicherheit besiegen wir damit nicht, die Krankheit werden wir so nicht los und die Angst, die uns im Nacken sitzt, auch nicht. Scheinbar müssen wir noch mehr tun und noch bessere Lösungsstrategien finden, damit dieser schreckliche Zustand aufhört. Tatsächlich kann es, dem äußeren Schein zum Trotz, das Beste sein, uns in Gottes Hände fallen zu lassen und einfach einen Moment aufzuhören, wie besessen zu strampeln. Es wirkt völlig verantwortungslos, die eigenen Anstrengungen zu unterbrechen und etwas so Unproduktives wie „auf Gott warten“ zu probieren. Wenn alles außer Kontrolle zu sein scheint, streben wir nach mehr Sicherheit, indem wir noch aktiver werden, um die Führung zurück zu erlangen.

Aber was ist, wenn wir gar keine Kontrolle haben?
Wenn wir uns selbst nur bis zur Erschöpfung antreiben, um eine Illusion von Kontrolle zu nähren?
Was, wenn in der größten Unsicherheit die Wahrheit am meisten Kraft entfaltet: Dass wir es eben nicht alleine schaffen. Dass unsere Bemühungen mehr Chaos verbreiten, als uns zum Ziel zu führen. Dass unser Leben in letzter Konsequenz nicht in unserer Hand liegt, zumindest dann nicht, wenn wir vor lauter Stress und Krise kaum noch zielgerichtet geradeaus schauen können.
Das Allerletzte, was uns dann sinnvoll vorkommt, ist es, uns ausgerechnet auf dem Wasser treiben zu lassen. Wasser ist schwer fassbar, gefährlich, kalt, hat kraftvolle Strömungen und ist einfach nicht unser Lebensraum. Dennoch verspricht uns Gott, dass er den Überblick bewahrt und dass auch in den unübersichtlichsten Momenten er derjenige ist, der uns durchträgt. Wie das Wasser trägt, ob bei Flaute oder Wellengang. In unsicheren Zeiten kann das Sicherste sein, auf jede Sicherheit zu verzichten und Gott das Ruder in die Hand zu geben.
Das fühlt sich paradox an, so paradox wie ich es finde, dass Haubentaucher freiwillig die gesamte Nacht auf dem See driften, ohne darauf zu achten, wohin sie getrieben werden.

aufmerksam, glaubhaft

Einen Schritt vor und zwei zurück

Von einem Einjährigen wurde mir eine Lektion erteilt:
Während ich noch beschäftigt war, die Karre im Treppenhaus zu platzieren, fing er an, die Treppe hinauf zu krabbeln. Zu Beginn wirkte es so, als würde er sich mangels etwas Spannenderem die Zeit vertreiben. Er sortierte Knie, Füße, Hände und deren Lage zur Treppenstufe und war vorrangig mit sich selbst beschäftigt. Langsam schien das Hinaufklettern interessant zu werden: So schaffte er robbend zwei Stufen, bis er sich überlegte, dass er sich an den Streben des Geländers aufrichten könnte. Wer nicht laufen kann, schafft im Stehen keine Treppe hochzusteigen, so setzte er sich hin. Und krabbelte eine Stufe wieder hinunter. Zog sich erneut am Geländer hoch, stand wackelig, kam nicht weiter, sank auf die Knie und robbte die Stufe wieder hinauf. Sehr, sehr langsam schaffte er es in den ersten Stock, ich stand jeweils „Auffang-bereit“ hinter ihm. Kaum dass er vor der richtigen Wohnungstür ankam und ich sie weit öffnete, wackelte er auf allen Vieren über den Treppenabsatz und begann den Aufstieg zur nächsten Etage. Wieder mit vielen Fehlversuchen, sich rückwärts hinab rutschen lassen, vorwärts krabbeln, seitwärts hochziehen und doch loslassen. Mit sehr viel Geduld kam er auf dem Treppenabsatz an, wendete und nahm die nächste Etappe in Angriff. Zielstrebiger, mit ruhigen, inzwischen fast gleichmäßigen Bewegungen. So erklomm er Stockwerk um Stockwerk, bis er unter dem Dach angekommen war. Dort wollte er rückwärts die Treppe wieder hinunter rutschen, wovon ich ihn besser abhielt – abends ein Kind mit Gehirnerschütterung seinen Eltern zu übergeben ist nicht die beste Referenz. Also nahm ich ihn auf den Arm, lief durch das Treppenhaus und wollte ihn in die Wohnung bringen, als er vor der Tür darauf bestand, sich umzudrehen und direkt sämtliche Treppen wieder hinauf zu krabbeln. Leider ließ ich ihn auch beim zweiten Mal im Dachgeschoss nicht rückwärts hinab kriechen, was definitiv seine Triumph schmälerte…

Mich hat dieses Erlebnis an zwei Dinge erinnert:
Zum Einen zeigt es mir sehr deutlich mein eigenes Leben: Einen Schritt vor und zwei zurück, bis es langsam rund läuft. Aber auch dann passieren Ereignisse, die sich anfühlen können, als ob mir das Ruder wieder entgleitet und meine Zielgerade abermals aus den Augenwinkeln verschwindet (So, wie ich den Kleinen die Treppe hinunter trug, statt in rückwärts rutschen zu lassen, was seinen Erfolg erst vollständig gemacht hätte).
Egal, ob es um berufliche Ziele, das Abgewöhnen von Schwächen, das Aufbauen von Stärken oder den Alltag in der Ehe geht: Von einer glatten Aufwärtskurve wie in einem Erfolgsdiagramm bin ich weit entfernt. Eher ist mein Leben ein holpriges Zickzack, das voran geht, aber doch viel Geduld benötigt. Das nennen wir „menschlich“. Auch wenn wir uns selbst und allen Mitmenschen gern vorgaukeln, wie viel wir schaffen und wie großartig wir sind: Vieles davon ist doch meist Fassade. Hinter die selbst wir als Hauptperson nur selten schauen…
Ebenso ist es menschlich, dass wir zu Beginn oft nicht wissen, was wir wirklich wollen. So wie der Lütte am Anfang mehr damit beschäftigt war, sich neben und auf der Treppe zu bewegen, als vorwärts zu kommen, müssen wir unsere Richtung erst finden. Wenn diese bestimmt wurde, ist die Frage, wie wir den Weg gestalten: Versuchen wir es auf die perfekte Weise und brauchen dafür viel Energie – oder krabbeln wir mittelmäßig, aber dafür gleichmäßig voran? Lassen wir uns ablenken, verzetteln wir uns und rutschen plötzlich rückwärts wieder zwei Stufen hinab? Oder behalten wir das Ziel fest im Auge, auch wenn wir uns an den Kanten der Treppe unterwegs wund reiben? Erreichen wir das Ziel? Wie sieht es dann in und um uns aus? Und was folgt danach?

Zum Anderen musste ich, während ich begleitend hinter dem Kleinen herging, an Gott denken. So sieht er mich durch mein Leben krabbeln. Er sieht meine Fortschritte, meine Umwege und meine Rückschritte. Er beobachtet, wie ich an Tempo gewinne – und wie ich mich verwirren lasse und verunsichert sitzen bleibe. Wie Weisheit sich aufbaut – und manchmal mit einer dummen Fehleinschätzung wieder den Rückzug antritt. Er freut sich über meine Erfolge und weiß doch, was hinter der nächsten Ecke wartet. Er ist neben, hinter und vor mir. Ob er mich zu meinem Schutz auf den Arm nimmt und eine Abkürzung einschlägt, weiß ich nicht. Aber ich hoffe, dass Gott mich nach meinem großen Triumph davon abhält, die Blumentöpfe der Nachbarn im Dachgeschoss zu demolieren, so wie der Kleine es vorhatte, bevor ich ihn schnappte 😉 .