aufmerksam

Buchrezension: „Hanami: Die wundersame Geschichte des Engländers, der den Japanern die Kirschblüte zurückbrachte“

Menschen, die ihrem Ziel leidenschaftlich folgen, können am Ende auf ein Leben zurückschauen, das andere inspiriert. Das Sachbuch von Naoko Abe beschreibt einen Briten, der sich um die Rettung der japanischen Zierkirschen bemühte. Vor gut hundert Jahren forschte und sammelte er rund um diese besondere Gattung, wobei er es innerhalb von sechs Jahren schaffte, ein Fachmann auf dem Gebiet der Zierkirschen zu werden. Klar, damals war die Welt (oder erschien zumindest) weniger komplex – dafür gab es zu der Zeit aber auch kaum zivile Flüge, schon gar keine Internetrecherche und andere postmoderne Abkürzungen zum Expertentum.

Sehr ausführlich erzählt die Autorin den Lebensweg „Cherry“ Ingrams, leider mit wenig persönlichen Einzelheiten. Dafür schenkt es einen guten Einblick in japanische Kultur und Geschichte und zeigt sehr krass, wie sich politische Ideologien sogar innerhalb kurzer Zeit auch ökologisch auswirken: In diesem Fall sorgte die militärische Führung mit ihrer übereilten Industrialisierung für eine nachhaltige Monokultur, was den Nationalbaum angeht. Während seiner Reisen schnitt Ingram einzelne Äste von möglichst vielen Varietäten, um sie zu bestimmen und zurück in England auf Wildkirschen aufzupfropfen, um die genetische Vielfalt zu erhalten. Leider mussten die Reiser heimlich mit dem Schiff einmal um den Globus bis nach Großbrittannien reisen, was nur wenige von ihnen überlebten. Wie gut, dass es in Japan eine Reihe Männer gab, die ihn unterstützten, und wiederholt Reiser per Schiff schickten. Über die folgenden Jahrzehnte breiteten sich die Kirschbäume in Europa und den USA aus, während sie in Japan immer weiter ausstarben. Obwohl Ingram sehr klare Favoriten hatte und viele Züchtungen hässlich fand, trug er nachhaltig dazu bei, sie zu retten: Bis sie eines Tages, Stück für Stück, wieder in Japan ankamen und langsam in ihrer Vielfalt wertgeschätzt wurden.

Ein Sachbuch, das einige Längen hat, aber wunderbar geeignet ist für stürmische Wintertage. Schade, dass Ingrams „menschliche Seite“ wenig zu Wort kommt – was hielten seine Frau und seine Kinder von der häufigen Abwesenheit, wie war er als Persönlichkeit? Trotz manch unnötiger Passagen ist es ein tolles Zeugnis dafür, was ein Mensch mit Unterstützung Gleichgesinnter schaffen kann. Es gibt Einblick in die Lebens- und Denkweise Japans und schenkt Ehrfurcht vor der Schöpfung – und dem Talent von Züchtern.

aufmerksam, glaubhaft

Wenn das Gute, das wir geben, zu uns zurückkehrt

Im Arbeitsalltag einer Senioren-Residenz habe ich zwischen dem Leiten von Gruppen, Einzelbetreuungen und x-tausend anderen Aufgaben oft den Eindruck, meine Kräfte zu verpulvern, ohne dass dafür irgendetwas sichtbar Gutes passiert. Ich höre mir dieselben Beschwerden und Depressionen täglich neu an und frage mich manchmal, wozu eigentlich.

Dann freut es mich, wenn Momente wie diese geschehen:
Ich hängte mit einer Dame eine neue Ausstellung in den öffentlichen Räumen auf und brauchte noch einen Bilderrahmen, um dort einige Erläuterungen zu den Exponaten zu präsentieren. Einen passenden Bilderrahmen hatte ich mal von einer anderen Dame aus dem Stadtteil gespendet bekommen, leider ließ er sich zum Wechseln des Inhalts nicht öffnen. Also bimmelte ich die Dame an, ob sie sich an die Funktionsweise des Mechanismus‘ erinnere? Sie marschierte in unserem Büro vorbei, wir bekamen gemeinsam den Rahmen gelöst und unterhielten uns dabei. Da ich für September einen kreativen Nachmittag zum Basteln von Grußkarten plane, lud ich sie als Revanche direkt dazu ein. Sie bot mir daraufhin an, diverse Pappen mitzubringen, die sie gerade von einer weiteren Dame geerbt hatte. Also hatte ich erst Hilfe bei dem verklemmten Wechselrahmen erhalten, als Dank zum Basteln eingeladen und dafür weitere Spenden versprochen bekommen.
Das war doch mal eine Win-win-win-Situation für alle!
Um 16:52 Uhr klingelte ein Ehepaar an, sie wollten mir mitteilen, dass es im Supermarkt aktuell Fahrradhelme für 9,99 Euro gäbe. Und da ich doch ständig und überall Fahrrad fahre, allerdings ohne Helm, wollten sie mich darüber informieren. Ich war ziemlich perplex, bedankte mich sehr artig für den wertvollen Hinweis und wurde gedrängt, mich zu beeilen, die seien bestimmt nur noch bis morgen erhältlich. Im Hintergrund hörte ich die Ehefrau sagen: „Sonst holen wir ihr einen!“ Ich bedankte mich noch einmal und versicherte, sie mir einmal anzuschauen.
Rein aus Pflichtbewusstsein dem Ehepaar gegenüber fuhr ich auf dem Heimweg einen Schlenker, kaufte folgsam einen Helm und rief von zu Hause aus an, dass ich jetzt einen hätte, sie bräuchten sich um meine Sicherheit keine Sorgen mehr zu machen. Auch wenn ich, eiskalt ehrlich wie immer, zugab, dass ich ihn wohl nur auf stark befahrenen Landstraßen und bei Glätte tragen werde. Er: „Ja eben, bei dem späten Wintereinbruch dieses Jahr haben wir uns sehr um Sie gesorgt!“
Na bitte, ich sorge mich nicht nur um andere, manchmal sorgt sich auch jemand um mich.

aufmerksam

Wer einen Garten mit SeniorInnen anlegt, kann etwas erleben

Spannende Ereignisse geschehen, sobald ein Garten angelegt wird. Seit ich in der Senioren-Residenz die Außenanlagen ökologischer und zur persönlichen Verwendung nutzbarer gestalte, häufen sich Momente wie diese:

– Herr Z. fragt mich, wie hoch die Stockrosen würden. Ich strecke meinen Arm so hoch ich kann und antworte: „Also, Zuhause werden sie weit über 2,50 m hoch. Laut Pflanzenstecker aber nur 1,50 m. Warum?“ „Na, bei Aldi verkaufen sie immer mal so Stangen, da wollte ich welche besorgen und die Stockrosen festbinden. Hab ich früher im Garten auch gemacht.“
Ich: „Deswegen habe ich sie ja extra am Geländer bei Ihnen vor der Wohnung eingepflanzt, damit sie da Rückhalt haben, wenn sie sehr hoch wachsen. Aber Ihre Stäbe sind super, freu ich mich drauf!“ Er: „Naja, dazu muss ich erstmal Aldi im Auge behalten…“

– Eine Angestellte aus der Küche bringt mir zugedeckelte Plastikbecherchern mit, in denen sonst Medikamente ausgeteilt werden:
Samen von Chili und Winterlingen, außerdem verspricht sie mir Ableger der Glockenblume „Oktopus“. Aha, vielen Dank, womit habe ich das verdient?
Anscheinend bin ich jetzt in die eingeschworene Gemeinschaft der GärtnerInnen aufgenommen…

– Ein ganzer Schwung von Hortensien wird telefonisch angeboten: Mehrere Damen wollen unabhängig von einander, dass ich vorbeikomme, um sie von ihren Büschen zu befreien. Anschließend wollen sie die freigewordenen Kübel auf dem Balkon neu bepflanzen. Ich kann sie doch mal schnell draußen am passenden Standort verbuddeln?! Äääääääh…. da kann ich mich zwar drum kümmern, aber mein Job ist das nicht!

– Diverse Damen stecken mir Tütchen mit Samen zu:
Sonnenblumen von einem Damenmode-Versand und Wildblumen-Wiesen von einem Mineralwasser-Hersteller.
Danke, aber warum säen Sie sie nicht selbst aus? Oder kommen einfach mal zu meiner neuen Garten-Gruppe? Ich freue mich immer über Interessierte!

– Herr H. macht sich große Sorgen um den Judas-Baum auf der Terrasse, der nach der Blüte diverse dürre Zweige aufweist. Er telefoniert meine KollegInnen durch (da ich einen Kurs leite und grad nicht rangehen kann) und lässt mir zusätzlich durch die Rezeption ausrichten, dass ich dringend pflegerische Maßnahmen ergreifen soll, „um nicht sehenden Auges die Katastrophe zuzulassen und den Baum absterben zu sehen!“ Er gießt ihn jetzt täglich. Und meint, ich solle einen amtlich beglaubigten Baumexperten bestellen.
Ja. Danke. Ich schau mich erstmal nach einer Antwort im Internet um.
Irgendwann würde ich auch gern mal die Tätigkeiten erledigen, für die ich eigentlich eingestellt bin.

– Regelmäßig treffe ich einzelne Damen und Herren oder kleine Grüppchen, die zufällig beim Kräuterbeet stehen, um zu schauen, wie die Kräuter so wachsen. Dadurch entstehen ganz neue Kontakte, die mich sehr freuen.
Aber auch: Dauernd werde ich darauf hingewiesen, dass bei dieser trockenen Hitze mehr gegossen werden muss. Ja, danke, macht die Haustechnik (spätestens, wenn ich wieder dran erinnere).
Ansonsten: Zwanzig Meter weiter steht eine Gießkanne direkt unter dem Wasserhahn an der Hausmauer. Gießen statt quengeln, wie wär’s?

– Große Uneinigkeit besteht auch darüber, wie viel pro Person nun geerntet werden darf. Ich versichere immer, dass Rückschnitt den Austrieb fördert, gerade bei Kräutern, aber natürlich alle daran denken sollen, dass sie nicht allein das Beet beernten. 329 andere SeniorInnen wollen vielleicht auch noch etwas abbekommen.

– Ich drücke Frau W. gegenüber mein Bedauern aus, dass sie nicht zur Garten-Gruppe kam, um Kräuter zu ernten und (jede ganz hygienisch für sich) eine sommerliche Kräuterbutter herzustellen. Sie: „Aber ich habe doch gar nichts für die Kräuter getan! Das Beet haben doch andere angelegt!“ Ich: „Na, so streng handhaben wir das nicht, hier dürfen alle miternten.“
Sie versichert mir, dass sie bald wieder beim Gießen helfen möchte: Sie füllt die Kanne zu einem Drittel, stellt sie auf den Rollator und schiebt damit über die Terrasse zum Beet. Dankeschön!

– Auch Lob erreicht mich: Verschiedene Personen versichern sehr glaubhaft, mein Pflanzkonzept sähe viel besser aus als das, was sonst so im Sommer die Rabatten gefüllt hat. Und besonders zufrieden sind alle mit den Schildchen, die ich in den Beeten platziere – speziell die Kräuter können so sehr schön erkannt werden.

– Ehepaar L. bringt mir einen USB-Stick mit, damit ich mir mehrere hundert Fotos von ihrem früheren Garten anschauen kann. Mein Mann sorgt sich um meine technische Sicherheit und erinnert mich daran: Stecke nie etwas, das du nicht kennst, an deinen PC! Aber mein Scheiß-PC auf Arbeit wurde durch IGeL komplett runtergedimmt, der kann gar nichts, noch nicht einmal Fotos öffnen.

– Von oberster Stelle erhalte ich eine Mail aus dem Heimbeirat, der die ideale Lösung für den Glastunnel entdeckt hat: Statt die Pflanzen abwechselnd verdursten und ertrinken zu lassen, weil einzelne Damen sich unterschiedlich darum kümmern und intern darüber zerstreiten, soll ich mich doch einer generellen Neugestaltung annehmen.
No way! Der Glastunnel ist militarisierte Zone, ich habe in vier Jahren nicht herausgefunden, wer dort eigentlich gießt und nach welchem Prinzip. Regelmäßig tauchen hier Blumenkübel auf und ab, ganze Kleinmöbel werden da deponiert und von anderen weggetragen. Ganz ehrlich, ich arbeite hier nur Teilzeit, für diplomatische Verstrickungen habe ich keine Zeit! Da soll sich die UN drum kümmern, das ist politisch hochexplosives Gelände!

aufmerksam, kreativ

Gartenprojekt mit Senioren: Bericht aus dem Bienenbeet

Seit Sonntag ackere ich mich durch diverse Beete der Senioren-Residenz, begleitet von wechselnden Damen und Herren.
Um trotz anhaltender coronabedingter Einschränkungen Gemeinschaft zu ermöglichen, gestalte ich den Garten mit einzelnen BewohnerInnen neu. Mein Ziel ist, dass die Anlage einen wesentlich höheren Anteil an ökologisch nützlichen Pflanzen hat, die sich auch für die SeniorInnen verwenden lassen. So säten wir nicht nur Wildblumen für Insekten, sondern legten eine Kräutergarten an und ließen essbare Blüten keimen. Beerensträucher sind ebenfalls bestellt und sollen nächste Woche ankommen, zusammen mit trockenheitsresistenten Stauden für den sonnigen Eingangsbereich.

Als ich im monatlichen „Hauskurier“ zum Mitmachen aufrief, waren die Rückmeldungen seeeehr verhalten. Im Gespräch konnte ich einige dazu verlocken, sich auf meine Liste setzen zu lassen, aber die Vorbehalte und Ängste überwogen deutlich. Nach zwei sonntäglichen Einzelbetreuungen an Terrassenkübeln trommelte ich für den Montag ein Grüppchen zusammen, die an unterschiedliche Beete verteilt wurden, um die Corona-Auflagen zu erfüllen. Mit dabei: „Mein Arm tut so weh“, „Ich kann heute gar nicht gut stehen, mein Bein schmerzt“, „Die Augen-OP schränkt mich ein und ich darf mich nicht bücken“ und als Teilnehmer Nummer vier „Ich kann nicht lange stehen, muss im Sitzen arbeiten“. Ich hörte mir artig die diversen Einschränkungen an und stellte die einzelnen Aufgaben in den verschiedenen Arealen vor. Anschließend schlug ich vor, wer wo arbeiten könnte, platzierte die Stauden, stellte allen einen Stuhl ans Beet, verteilte Schaufeln usw.

Alle warteten auf konkrete Anweisungen, während ich zwischen den einzelnen Parteien hin und her zischte. Der Herr, der nicht stehen konnte, grub bereits mit dem Spaten das gesamte Erdreich um. Die Dame, deren Arm schmerzte, packte kräftig am Blumenkübel mit an, und die Seniorin, die sich nicht bücken sollte, saß auf dem Stuhl und krebste zischen ihren Füßen im Boden herum. Obwohl alle eine ständige Betreuung erwarteten, was bei einer Leitung und vier Anwesenden für sie wie für mich viel Geduld erforderte, war die Stimmung sehr gut. Immer wieder kamen weitere SeniorInnen vorbei, hielten an, schnackten, trieben ihren Hund zwischen den Beinen aller hindurch oder setzten sich im Strandkorb dazu.
Absolut niemand erwähnte ein einziges Mal all die Gründe, warum sie zu schwach seien, um mitmachen zu können.
Alle wollten gerne weitermachen, als ich zum Aufräumen blies. Niemand fand, es sei an der Zeit, zurück ins Appartement zu gehen. Nur ich wollte gern nach Hause….
Die Dame mit dem schmerzenden Bein lief sogar in den zweiten Stock und zurück, nur um einen Handfeger zu holen, mit dem sie die Beeteinfassung aus Steinen abbürsten wollte.

Am Dienstag war sie gleich morgens wieder am Start, während ich im Hintergrund Löcher für höhere Stauden grub, holte sie mir die Pflanzen aus den Töpfen und fühlte sich allgemein nützlich.
Nachmittags schnappte ich mir eine weitere Dame, die anscheinend nicht ganz verstanden hatte, was genau die Aktivität sein sollte, und sich ständig wunderte: „Ich wusste ja nicht, dass ich alleine hier bin! Und was ich hier alles tun soll! Also darauf hatte ich mich nicht eingestellt!“ Aber sie fuhrwerkte sehr eifrig mit mir herum, erzählte Geschichten von ihrer Tochter, die beide Hosentaschen voller Regenwürmer hatte, und bestimmte ganz klar, welche Stockrose mit welcher Blütenfarbe an welchen Standort kommen sollte.
Außerdem verliebte sie sich in einen Tausendfüßer (Bild oben): „So fein! Schau mal, so fein, wie er sich schlängelt, und so kleine Beinchen…“ Er stürzte mehrfach ab und musste aus dem Gras geklaubt und zurück auf ihre Hand gesetzt werden.

Zum Schluss nahmen die Dame und ich uns ein Beet vor, das gestern nicht ganz fertig geworden war, und ich drängte einen unschuldigen Herrn dazu, der in der Nähe einsam auf der Terrasse saß, mir mit dem Spaten bei den dicken Wurzelausläufern im Boden zu helfen. Mit seinen Birkenstock-Schlappen kam er tatsächlich ins Beet und legte sich kräftig ins Zeug. Während dessen schimpfte er ununterbrochen: „Gestern waren hier sooo viele Leute, und heute biste ganz alleine, Marie. Das ist doch nicht in Ordnung! Wo sind die denn alle?“
Dabei war natürlich Zweck und Ziel der ganzen Aktion, möglichst viele SeniorInnen nacheinander einzubeziehen und aktiv werden zu lassen. Je kleiner die Gruppe, desto eher kann ich ZuschauerInnen mal schnell zum Mitmachen bewegen…

Wer sich konkrete Hinweise und Tipps für ein Gartenprojekt mit SeniorInnen wünscht, wird in der Schatzkiste Seniorenbetreuung fündig.

aufmerksam, feminin

Der Traum vom Schreiben: Woran du erkennst, dass du endlich eine „echte Autorin“ bist

Viele träumen davon, ihre Gedanken einmal abgedruckt in einer Zeitschrift oder sogar als Buch in den Händen halten zu dürfen. Natürlich kann sich jedeR auf Blogs und in den Kommentarfunktionen von Webseiten austoben, aber genau darin liegt die Krux: Da es jeder beliebigen Person möglich ist, hat es nicht den Wert von „echter Schriftstellerei“.
Heute gebe ich mal wieder Einblick in mein (nebenberufliches) Schreiben – wahlweise, um dich zu unterhalten, oder um dich zu coachen!

Woran du erkennst, dass du endlich eine „echte Autorin“ bist:
1.) Du hast keinen Überblick mehr, was du alles wann für welchen Verlag geschrieben hast.
Eine Freundin drückt dir eine Tüte in die Hand, mit den Worten: „Hier, das sind Belegexemplare von dir, die liegen schon seit drei Jahren bei mir rum. Dachte, du willst sie sicher mal wiederhaben.“
Du lächelst ahnungslos-freundlich, bedankst dich und überlegst: Was, um alles in der Welt, hast du vor drei Jahren geschrieben? Offensichtlich etwas halbwegs Brauchbares, sonst hätte es niemand gedruckt. Was mag nur in der Tüte sein?

2.) Deine Lektorin hat sich seit sechs Wochen nicht mehr bei dir gemeldet, und du bist trotzdem völlig entspannt.
Zu Beginn deines offiziellen Schreibens hattest du schon nach zehn Tagen ohne Antwort schlaflose Nächte und Bauchkrämpfe, hast dich gefragt, ob deine Arbeit derart unterirdisch ist, dass sich niemand mehr jemals bei dir melden wird. Hast überlegt, ob du irgendwie in der letzten Mail den passenden Umgangston nicht getroffen hast oder auf der Abschussliste des Verlags stehst.
Inzwischen weißt du: Wenn sie sich wochen- oder monatelang nicht melden, ist alles okay.
Das muss so.
Entspann dich, alles läuft nach Plan. Auch, wenn es keinen Plan gibt, du zwischen den LektorInnen hin- und hergeschoben wirst und deine Fragen unbeantwortet bleiben: Alles ist super, wirklich. Das gehört dazu.

3.) Du nimmst nicht mehr auf Krampf jeden Buchvertrag an.
Wenn dir nicht gefällt, wie das Lektorat mit dir und deiner geistigen Arbeit umgeht: Lass es bleiben.
Wenn das Honorar eine Beleidigung ist: Lass es bleiben.
Wenn du alles 17mal umschreiben musst, bis du selbst nicht mehr weißt, was deine Grundaussage war: Lass es bleiben.
Wenn du ganzzzzzzz seltsame Regelungen im Autorenvertrag findest: Lass es bleiben.
Wenn dein Projekt es wert ist, mit deinen Mitmenschen geteilt zu werden, wird sich ein Weg ergeben.4.) Von deinem Quartalshonorar kannst du dir mehr leisten als einen Wocheneinkauf auf dem Markt.
Es reicht zwar noch nicht, um als reguläres Einkommen zu gelten, aber du kannst dir davon zumindest einen Kurzurlaub finanzieren. Wenigstens ein verlängertes Wochenende.

5.) Du bist gerade mit einem Buchprojekt beschäftigt, für das sich bereits mehrere Verlage interessieren, und auf einmal beginnst du wie vom Blitz getroffen, ein ganz anderes Buch zu schreiben. Urplötzlich erwischt dich eine fantastische Inspiration, du setzt dich an den Computer, und deine Hände tippen wie von allein die ersten 26 Seiten eines Manuskripts, von dem du nicht wusstest, dass es in dir schlummert. Und das hundert Mal geiler ist als dein eigentliches Konzept, das du bereits mündlich einem Verlag versprochen hattest.
Schiete, sagte Fiete.
Also kommst du nicht umhin, trotz deiner norddeutsch-sachlichen Arbeitsweise, eine Mail an deine zukünftige Lektorin zu schreiben, die sich liest, als wärst du auf LSD. In der Hoffnung, dass sie versteht, wie viel großartiger das ist, was plötzlich wie von allein auf deiner Tastatur entsteht. Wahrscheinlich glaubt sie jetzt, du hättest eine Meise, aber haben die richtig guten AutorInnen nicht alle einen kompletten Vogelschwarm? Eben.
Wenn die Lektorin die Richtige für dich ist, wird sie sich auf dein plötzliches Salto einlassen.

6.) Dein Partner wirft dich aus dem gemeinsamen Arbeitszimmer, weil er coronabedingt im Dauer-Homeoffice ist und nicht mehr erträgt, wie dynamisch du in die Tasten haust. Okay, dein Keyboard war damals billig und ist inzwischen uralt, aber was sollst du tun, wenn du so richtig im Fluss bist? Nicht die Ehe riskieren, sondern eine „Zweigstelle“ im Park eröffnen und dort eine temporäre Schreibklause einrichten.

7.) Es fallen hübsche Jünglinge vor dir auf die Knie, wenn du das Haus verlässt, um zum Altglascontainer zu gehen.
Sie bieten dir willig ihre Körper an und loben deinen genialen Geist: Der Preis des Ruhms, den du demütig bereit bist zu (er)tragen.
Okay, das ist gelogen.
Wäre aber schön!

aufmerksam

Party, Party, wir impfen gegen Corona! Lagebericht aus der Senioren-Residenz

Silvester 2020, ich habe Dienst und soll heute das mobile Impfteam begleiten.
Als ich ankomme, versuche ich zuerst herauszufinden, was genau meine Aufgabe ist, bis der Impfstoff eintrifft. Das Restaurant steckt voller junger ÄrztInnen und MFAs, die sich selbst und die Lage sortieren. Sobald ich den Direktor finde, steckt er mir mehrere Scheine aus dem privaten Portemonnaie zu, damit ich Essen besorge.
Zurück aus dem Supermarkt bringe ich die abgepackten Sandwiches in der Kühlung unter, wasche und portioniere Obst und baue ein möglichst übersichtliches und ansprechendes Buffet auf. Währenddessen sitzen die Putzfrauen, das Küchenteam und die Verwaltung in einer Reihe, um geimpft zu werden. Ich bin etwas irritiert, da offiziell nur das Personal der stationären Pflege geimpft werden sollte und sonst nur SeniorInnen.

Dann geht es endlich los, wir beginnen im fünften Stock und ich bilde die Nachhut. Die SeniorInnen sollten die Wohnungstüren offen halten, um notfalls direkt die Ärzte rufen zu können, statt erst auf den Notknopf zu drücken. Hält sich natürlich kaum jemand dran…
Frau Kronshagen* (alle Namen geändert) meint, dass sie froh sei, geimpft worden zu sein, aber jetzt ja leider drei Wochen lang ihre Familie nicht sehen könne, wegen der Ansteckung. Ich frage nach, sie: „Ja, ich bin doch jetzt durch die Impfung ansteckend!“ Nein, beruhige ich, es sei nur noch nicht hundertprozentig sicher, ob geimpfte Personen trotzdem noch als Überträger auftreten könnten. Aber hier und jetzt sei sie auf keinen Fall ansteckend. Dooooch, das habe der Arzt so gesagt! Ich laufe auf den Flur, um den nächsten Arzt zu bitten, einmal für Aufklärung zu sorgen. Das passiert zum Glück umgehend.

Frau Dr. Siebert sucht nach mir und berichtet, dass ihre Spülmaschine kaputt sei, daher könne sie heute nicht kochen und brauche das Mittagessen aus der Küche geliefert. Die Kausalität dahinter verstehe ich zwar nicht, aber ich laufe in die Küche, um die notwendigen Schritte einzufädeln.

Währenddessen ist Herr Skrobaski jodelnd auf dem Gang unterwegs, sodass sich verschiedene Türen öffnen und die umliegenden Nachbarinnen wissen wollen, was los ist. Spontan entsteht eine Flur-Party, und ich vergewissere mich, dass alle wohlauf sind. Für die Pressearbeit lässt sich Herr Skrobaski strahlend mit seinem Pflaster fotografieren, den Tagesordnungspunkt habe ich damit auch abgehakt.
Frau Ruhte kommt telefonierend aus ihrer Wohnung, hängt sich an meinen Hals und ruft: „Das ist Herr Schreiber, den kennen Sie auch! Sagen Sie mal Hallo!“ Ich grüße artig in den Hörer, den sie mir an die Wange presst, während sie zu den Umstehenden laut: „Unsere Frau Krüerke! Ist sie nicht niiiiiedlich?“ ruft. Ich verstehe Herrn Schreiber, wer auch immer er sein mag, bei dem Lärm kaum. Trotzdem tue ich mein Bestes, ihn zu unterhalten, während Frau Ruhte sich weiter an meine Brust presst. Ohne Maske. Naja, ich will gar nicht daran denken.

Frau Langbein diskutiert mit mir, dass sie schrecklich gern geimpft werden würde, aber weil sie so starkes Asthma hat und alle 14 Tage Injektionen erhält, doch bestimmt nicht mitmachen dürfe, oder? Ich renne dem Impfteam hinterher und bitte sie, Frau Langbein zuliebe noch einmal umzukehren und eine ausführliche Aufklärung vorzunehmen in der Hoffnung, dass sie doch geimpft werden kann.
Eine Kollegin aus der Verwaltung ruft an, wo ich denn die Sandwiches untergebracht hätte und wann ich sie in das Salatbuffet umräumen wolle, damit die ÄrztInnen zugreifen können? Keine Ahnung, zur Mittagszeit? Und warum eigentlich ich, die ich im Nachbarhaus im fünften Stock stecke und dort alle Hände voll mit den BewohnerInnen zu tun habe? Das sage ich natürlich nicht, sondern verspreche, genau um 11:30 Uhr rüber zu laufen, wenn die Verwaltung meint, ich solle die Sandwiches umräumen.

Herr Krüger freut sich, als ich durch die offene Tür trete und an sein Bett komme, wo er sich vorsorglich hingelegt hat: „Naaa, wie schön, Sie zu sehen! Ich habe so an Sie gedacht, schaun Sie mal, wie schön Ihr Weihnachtsstern auf dem Fensterbrett blüht!“ Ich inspiziere artig die Topfpflanze, die ich im Advent zusammen mit meinen Kolleginnen an alle Bewohner als Gruß zum zweiten Advent verteilt habe. Der Weihnachtsstern steht knietief im Wasser, sieht aber tipptopp aus. „Den gieße ich jeden Tag, und schauen Sie, wie dankbar er das aufnimmt!“ Als nächstes fragt er mich, wo ich eigentlich genau wohne, und erzählt aus seinem Berufsleben bei Hein Gas. Ich muss mich losreißen, um mit den Nachkontrollen weiterzumachen.
Frau Plattner fragt, ob sie noch geimpft werden könne, sie habe sich dagegen entschieden und wolle jetzt doch. Wieder gallopiere ich den gesamten Gang hinunter und bitte das Team, noch einmal zu Frau Plattner umzukehren.

Von Frau Gumpert höre ich ein großes Lob zu meiner „Andacht zum Jahreswechsel“, die ich als kopiertes Heft allen GottesdienstbesucherInnen im Haus verteilt habe.
„Sie haben das doch studiert, sonst könnten Sie das nicht!“ „Nee, Frau Gumpert, ich hab keine Theologie studiert, das kommt einfach von Herzen.“
Am Telefon möchte Herr Kleinschmidt mit mir über seine Mutter sprechen, ich versichere ihm, gleich im Büro in Ruhe reden zu können.
An der Tür von Herrn Jepsen stellt sich heraus, dass er sich nicht hat impfen lassen, davon unabhängig aber „so richtig scheiße drauf“ sei und „nur noch sterben wolle“. Da hilft auch kein nettes Zureden, ich weiß ja, wie schlecht es ihm körperlich und psychisch geht.

Nun renne ich runter ins Nachbarhaus, um das Buffet für die ÄrztInnen aufzubauen und „Ralf mit dem braunen Pulli“ zu finden, der der Koordinator sein soll. Außerdem melde ich in die Verwaltung, dass für den ersten Ansturm das Angebot reicht, aber sicher nicht, um 40 Personen tatsächlich satt zu bekommen. Nachkaufen muss jemand anderes, ich bin mit den Nachkontrollen beschäftigt.
Ich gönne mir den Luxus, im Büro einen Schluck Wasser zu trinken, einen Lebkuchen für den Blutzucker zu essen und einmal ins Bad zu verschwinden, dann rufe ich Herrn Kleinschmidt wegen der Demenz seiner Mutter zurück und hetze schon wieder durch die Gänge.
Frau Puttfarken hat gerade Besuch vom ambulanten Dienst und hadert mit der Entscheidung, geimpft worden zu sein, „wenn man doch noch gar nicht weiß, ob das überhaupt nützt und was uns nachher noch an Nebenwirkungen einholt!“ Ich sehe streng in die Richtung der Kollegin, die mich aber nicht anschauen mag. Verbreitet sie hier gerade völlig sinnlose Panik?
Ich halte mich mit einem Kommentar zurück und laufe zum nächsten Appartement.
Dort zeigt mir Frau Mühlbeck ihre Wohnung, die ich bis heute noch nie betreten habe. Sie ist sehr ausdrucksstark möbliert: Der Flur voller Zerbras in allen Varianten, die Küche komplett in Rot mit Coca-Cola-Souvenirs, das Wohnzimmer in silber-bunt. Ich staune, muss aber weiter.
Herr Lettbach fragt mich, ob ich für ihn zum Bäcker laufen könne, um zwei Berliner zu besorgen. Ich verspreche ihm, dass mit dem Mittagessen aus der Küche garantiert ein Berliner ins Appartement geschickt wird, kann aber nicht zusagen, dass ich persönlich es heute schaffen werde, für ihn zum Bäcker zu laufen.

Frau Hindenburg macht gerade Klarschiff, als ich komme, und unterhält sich mit ihrer Nachbarin und Freundin von gegenüber durch die geöffneten Appartementtüren. Sie erzählt ihrer Nachbarin, die im Rollstuhl sitzt und über Frau Hindenburgs Energie staunt, dass sie zwar kein Doping erhalte, wohl aber „Tabletten gegen Altersstarrsinn“.Herr Menninge freut sich wie immer schrecklich, mich zu sehen, darf mich wie immer in diesem Jahr leider nicht knuddeln und soll mir wie immer keinen Alkohol schenken.

Frau Johannsen ist wieder einmal unzufrieden mit der Portionsgröße ihres Mittagessens gewesen und hat ihren Anwalt eingeschaltet, wie sie mir mit gefährlichem Blitzen in den Augen erklärt. Kleine Randbemerkung: Sie ist im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte.
Herr Großmann bittet mich herein, um mir extrem ausführlich von seinen allergischen Anfällen mit heftigen Schwellungen zu erzählen. Es dauert seeeehr lange, bis ich mich loseisen kann.
Herr Wedekind lobt meine „Andacht zum Jahreswechsel“ und schlägt mir vor, doch noch mal fix Pastorin zu werden, mein Talent sei doch sonst eine Verschwendung!
Im Zehn-Minuten-Takt ruft Frau Friedrichs an, weil ich schon seit drei Tagen ihren Wasserkocher nicht entkalkt habe, ob ich wohl riskieren möchte, dass er kaputt gehe?! Ihr Ton klingt ausgesprochen drohend.
Inzwischen ist es kurz vor 18:00 Uhr und ich bin mit den Nachkontrollen immer noch nicht durch, während die Impfteams einpacken.
Tja, dann muss Frau Friedrichs eben tödlich beleidigt sein, bis ich am Sonntag wieder zur Arbeit komme!

* alle Namen sind, wie immer, geändert

aufmerksam

Bericht aus meinem Arbeitsalltag: Ein Adventssonntag in der Senioren-Residenz

Sonntagsdienst in der Senioren-Residenz:
Reihum ist eine Kollegin aus dem Team sonntags an der Reihe, während des Mittagessens in Restaurant und Wintergarten den Überblick zu behalten, ob alle anwesend und wohlauf sind, und für sämtliche Belange ansprechbar zu sein.
Für alle, die daran interessiert sind, wie das Leben am Nikolaustag in einer Hamburger Residenz aussieht, notiere ich exemplarisch einige Begegnungen vom zweiten Advent. Alle Namen sind selbstverständlich geändert.

Frau Tangstedt sieht mich vor dem Büro, winkt, kehrt um und steht wenig später vor mir: Sie überreicht mir eine Karte, auf der sie mir eine gesegnete Advents- und Weihnachtszeit wünscht und sich mit einem kleinen Geschenk für meinen spontanen Putzeinsatz am 11.06. bedankt (sie war gerade eingezogen und die Handwerker hatten ihr gesamtes neues Appartement in eine Staubdecke gehüllt).
Ich betrete den Wintergarten und gehe von Tisch zu Tisch, um mich mit allen zu unterhalten. Dabei kontrolliere ich, ob überall festliche Tischdecken in weinrot liegen, die Kerzen brennen und jede*r einen Nikolaus am Platz stehen hat.
Herr Appelbeck fragt mit einem Blick auf mein Langarmshirt: „Ist hier der Sommer ausgebrochen?“
Ich erkläre ihm, dass ich gerade erst mit dem Rad ankam und mir daher gut warm ist. Darauf er: „Ach, da gibt’s doch auch eine, die saust hier immer mit dem Roller rum. Durch den Flur,“ er überlegt kurz, dann triumphierend: „Ja, das ist die Hebamme!“
Sein Sitznachbar Herr Kolaski bricht in dröhnendes Gelächter aus, bis sein Bauch wackelt. Ich lache mit und sage zu Herrn Appelbeck: „Nee, Bedarf an Hebammen haben wir hier eher nicht, das ist Frau Dredelsen vom ambulanten Dienst.“ Herr Kolaski keucht: „Die Heeebamme…“ und hält seinen Bauch. Ich: „Herr Kolaski, bei Ihnen könnte es aber bald soweit sein, wenn ich Ihren Bauch anschaue…“ Er: „Ein Mann ohne Bauch ist wie ein… wie ein… da gab es so einen Spruch… wie ein Buckliger.“ Ich kann die Logik nicht ganz nachvollziehen und gehe weiter zum nächsten Tisch.
Dort werde ich gefragt, wo meine Mütze sei. Meine Mütze? Die ist nun nicht so schön, dass ich damit dringend drinnen herum laufen möchte. Erst langsam geht mir auf, dass gewünscht wird, ich möge eine Nikolausmütze tragen.

Inzwischen bin ich im Restaurant, wo Frau Lavrenz mit klapperndem Gebiss ihr Eis zum Dessert in Angriff nimmt. Sie bietet mir an, einen Bissen von ihrem Eis zu probieren, und leckt ihren Löffel gründlich ab, um ihn mir zuliebe noch einmal in der Serviette zu reiben, bevor sie mir den Nachtisch aufdrängt. Ich lehne mit Fingerzeig auf meine Maske dankend ab.
Herr Holthusen sitzt heute alleine, ich frage ihn, wo sein Sitznachbar steckt. Er: „Ach Mariiiie, der is unterwegs, setz dich doch ’ne Weile.“ Ich tue ihm den Gefallen, wir schnacken kurz, bevor ich weiter muss.
Am Tisch von Frau Schmitt und Frau Schmidt wird mir ein Gläschen Rotwein aus einer privaten Buddel angeboten: „Der Portugiese steht schon so lange bei mir, deswegen brechen wir den heute mal an. Ist ein sehr guter, wirklich, Frau Krüerke! Dürfen Sie nicht mittrinken?“ Nein, danke.
An verschiedenen Tischen wird meine Andacht gelobt, die als kleines kopiertes Heft an der Rezeption abgeholt und allein im Appartement durchgeführt werden kann. Außerdem nehme ich Bestellungen auf für diejenigen, die keine mehr abbekamen. Leider dürfen wir ja aktuell keinerlei Gruppen anbieten, daher versuche ich, möglichst viel in dicken braunen Umschlägen zu den SeniorInnen zu schmuggeln.
Wieder werde ich am nächsten Tisch gefragt, wo ich denn meine Mütze gelassen hätte?
Herr Nachtigall schaut mich finster an (sonst zieht er mich gern mit Blicken aus): „Ich möchte mich beschweren!“
„Aha?“ „Jaaaa, ich habe meine Schuhe vor das Appartement gestellt und heute morgen war nichts drin! Das war schon letztes Jahr so!“ Ich gebe zurück: „Und daraus ziehen Sie keine Konsequenzen? Vielleicht mangelt es ja an Artigkeit?!“
Auf dem Weg zum Ausgang des Restaurants kommen mir zwei alte Freundinnen eng untergehakt in einer hitzigen Diskussion entgegen. Die demenziell veränderte Hälfte des Gespanns ruft erklärend: „Wir streiten uns nicht, wir schlagen uns nur!“ Na denn.

An der Rezeption melde ich die Vermissten und Abwesenden, damit im Appartement eine Lebendkontrolle durchgeführt wird. Rezeptionist Udo zeigt mir den riesigen Karton, der angeliefert wurde (an einem Sonntag?): „Hier, die Lieferung von der Bundesregierung, soll sofort in der Verwaltung gemeldet werden!“
„Ja und, was soll da drin sein? Zahlen sie uns den Corona-Pflege-Bonus jetzt in Naturalien aus? Toastbrot und Eier für alle?!“
Er meint, es könnten ja auch lauter Scheine drin stecken.
Vor der Tür zum Büro finde ich einen meiner braunen Umschläge, die ich gefüllt mit Anleitungen und Bastelmaterial an alle Damen verteilt habe, die zum ausgefallenen Adventsbasteln nicht kommen durften. Unter meiner Aufschrift steht: „Ich kann das nicht, Mit Dank zurück.“
Ich besuche eine Dame im Appartement, der es nicht gut geht, was sie umgehend nutzt, um mir sehr explizit ihre Ausscheidungsvorgänge bzw. deren Fehlen zu schildern. Danke.
Weiter laufe ich zu Frau Nimmberg, die gestern Abend aus Süddeutschland kam, um ins Gästeappartement einzuziehen. Sie wünscht sich, dass ich ihren Koffer auspacke. Damit solle ich aber besser nicht jetzt anfangen, weil sie ja nicht wisse, wann ihr (aus Gründen der Quarantäne) das Mittagessen in die Wohnung gebracht würde. Und es ginge nun gar nicht, dass ich schon mal mit dem ersten der vier Koffer anfange, wenn noch nicht das Essen da sei. Oder wenn es da sei. Oder wenn es fehle. Oder wenn es jederzeit kommen könne. Ich verspreche ihr, später wieder rein zu schauen.Nun folgen um 12:00 und um 13:00 Uhr zwei weitere Runden zur Mittagszeit in Restaurant und Wintergarten, bis um 13:40 Uhr Herr Krause auftaucht, um dringend etwas zu essen. Ich bin sehr irritiert, da er aufgrund der fortschreitenden Demenz gar nicht mehr im Restaurant isst. Ein Anruf beim ambulanten Dienst ergibt, dass er sein Mittag in der Wohnung serviert bekam. Er weint und fleht mich an, ihn nicht abzuweisen, und legt bittend die Hände zusammen, die er mir ins Gesicht hält. Ich versuche, ihn zum Mitkommen zu bewegen, um ihn ins Appartement zu begleiten. Mehrfach stolpert er unterwegs. Dort angekommen bettelt er nach Essen und reißt ständig die Balkontür auf, um mit einem Sprung seinem Leben ein Ende zu setzen.
Sehr, sehr lange versuche ich, ihn zu beruhigen, bitte Kolleginnen um Hilfe und muss irgendwann völlig hilflos und erschöpft zugeben, dass ich nicht mehr tun kann.
Im Büro warten diverse Nikoläuse auf mich, die an besonders fitte BewohnerInnen verteilt werden sollen, die grundsätzlich selbst kochen und daher über Restaurant und Wintergarten nicht erreicht werden.
Auch Frau Nimmberg besuche ich mit anderthalb Stunden Verspätung, jetzt gibt es einen anderen Grund, weshalb ich dringend die Koffer auspacken soll, aber ihrer Meinung nach leider doch nicht jetzt.
Im Flur treffe ich Frau Johannsen, die mir von den Problemen mit den „LSD-Lichtern auf dem Balkon“ erzählt: „Die flackern und blinken, als wär hier Las Vegas. Das geht doch nicht, da bekomme ich von den anderen doch Ärger! Ich hoffe, dass mein Enkel nachher kommt, damit er die Schaltung von den LSD-Lichtern in Ordnung bringt.“
Ja, mich machen die LSD-Lichter auch ganz schummerig im Kopf… (-;
Ein paar Anrufe und Dramen später fahre ich heftig unterzuckert nach Hause, weil ich keinen Moment Zeit hatte, mehr als einen Müsliriegel eilig im Rennen zu verschlingen und drei Schlucke Wasser zu trinken. Mein Mittagessen ist völlig umsonst zur Arbeit und zurück gefahren.
Fröhlichen Nikolaus!

aufmerksam, feminin

Mein Leben als Autorin: Kein Zimmer für mich allein

Virginia Wolf schrieb im September 1929 den Artikel „A Room of One’s Own“, in dem es sowohl um Bildungschancen für Frauen ging als auch um das Recht, ein eigenes Zimmer und damit Privatsphäre zu haben. Das Privatzimmer der Frau ist nämlich nicht die Küche, auch wenn Mann das gern dachte (und denkt…).
Ich kann zwar im Arbeitszimmer an meinen Manuskripten und Verlagsbewerbungen schreiben, während mein Mann neben mir sitzt – entspannter ist es allemal allein. Konzentrierter sowieso.
Aber mein Computer steht nun einmal neben seinem Computer, und am kleinen Tablet schreiben macht bei langen Texten einfach keinen Spaß.

Wenn ich also allein arbeiten möchte, muss ich mir etwas ganz Anderes ausdenken:
Bei gutem Wetter richte ich mir ein temporäres Büro auf einer Holzbank ein.
Am liebsten tue ich das auf dem weltgrößten Parkfriedhof, und dort an einer Ecke, die ich persönlich „Skandinavien“ nenne. Die beiden Bänke dort zwischen den Birken am Wasser sind extrem beliebt, insofern verrate ich garantiert nicht, wo „Skandinavien“ liegt. Schließlich habe ich selbst öfter Pech, und die Bänke sind belegt. Oder ich muss erst einmal eine Weile auf der maroden Bank ausharren, bis die schöne Schwester frei wird.

Ich nehme mir grundsätzlich neben meinem Notizbuch, das ich immer bei mir trage und in dem ich alle Ideen für Konzepte festhalte, weitere Lektüre mit. Schließlich garantiert mir niemand, dass ich völlig im Flow versinke und die Ideen nur so sprudeln. Insofern habe ich immer Lesestoff aus Fachliteratur und einen Roman dabei, um mich zwischendurch zu entspannen oder querzudenken. Meine Wasserflasche und Proviant sind natürlich auch notwendig, schließlich möchte ich genussvoll zwei bis drei Stunden ausharren können.
Ganz wichtig: Einen zweiten Stift, falls der erste gerade dann aufgibt, wenn die Gedanken so richtig schwirren.
Was habe ich auf der rotten Parkbank (s. unten) bereits geflucht, weil der Kuli plötzlich nicht mehr wollte, wie er sollte! Seitdem nehme ich zur Sicherheit einen Bleistift zusätzlich mit, der funktioniert immer!
In einem Café zu sitzen und Konzepte zu entwickeln, wäre mir viel zu anstrengend, da zu laut und zu unruhig.
In der Natur finde ich die Umgebungsgeräusche angenehm, weil ich nicht so steril vor dem Monitor sitze und mich zu Produktivität verpflichtet fühle. Draußen spüre ich den Wind, höre das Laub knistern, den Schwan gründeln und die Bläßhühner kreischen, das erlebe ich als positive Kulisse. Ich kann zwischendurch Kastanien sammeln, die über mir herunter stürzen, oder mich zeitweise im Schneidersitz auf meine Jacke ins Gras setzen. Barfuß.

aufmerksam, glaubhaft

Lachen und Weinen liegen im Arbeitsalltag eng beieinander…

Zwischen Lachen und Weinen: So schwankte ich als Logopädin mit „meinen“ Kindern oft im Laufe einer Arbeitswoche.
Aber auch die SeniorInnen sind MeisterInnen darin, mich an den Rand des Wahnsinns und wieder zurück zu treiben. Mir ist sehr wichtig, meine wöchentlichen Veranstaltungen abwechslungsreich und spannend zu gestalten. Ich langweile mich sehr schnell, daher fällt es mir im Traum nicht ein, bestimmte Erfolgsrezepte zu wiederholen, bis sie „abgenudelt“ sind. Glücklicherweise ist mein Hirn springlebendig, und ich habe bereits bis in den März bestimmte Highlights im Veranstaltungskalender geplant. Okay, es sind eher Experimente, aber dank meines Gespürs werden Experimente oft zu Höhepunkten.
So auch die „Philosophischen Nachmittage“, die ich in größeren Abständen immer mal wieder anbiete: Zum Thema „Glück“ oder „Dankbarkeit“ oder auch „Was ist eigentlich Kunst?“ Diese Woche hatte ich, passend zum Jahresanfang, das Motto „Anfänge und Neuanfänge“ bzw. „Abschiede und Anfänge“ geplant. In meinen Augen ein lebenslang spannendes Thema. Wie immer hatte ich Zitate weiser Menschen heraus gesucht, kurze Vorlesetexte vorbereitet, Fragen und Mitmach-Impulse geplant und drei nachdenkliche Lieder zum Vorspielen ausgesucht.


Die ersten Besucherinnen kamen bereits, während der Haustechniker erst begann, die Tische und Stühle zu stellen. Nachdem ich seinen Kollegen bereits gefragt hatte, wann er denn plane, mal den Raum vorzubereiten, schließlich kämen in sieben Minuten garantiert die Ersten… Dann dirigierte ich die Damen auf extra Stühle, die ich am Rand aufstellte, damit sie nicht in seliger Ahnungslosigkeit mitten im Raum die Aufbauarbeiten behindern.
Die Kopien holen, große Tischdecken besorgen, meine Deko aus dem Büro tragen, noch mal lüften, nach dem Kaffeewagen schauen, weitere Damen auf Plätze am Rand des Schlachtfelds um den Haustechniker lotsen, die Musikanlage aufbauen, … Zwanzig Minuten vor Beginn der Veranstaltung war mir, wie immer, bereits sehr warm.
Und dann ging es los: Die Begrüßung lief noch rund, dann zickte die CD zum ersten Lied, das als Einstimmung dienen sollte. Ich wählte Lied Nummer zwei, da ich unmöglich ein Lied ankündigen und dann nichts hören lassen kann. Auch, wenn es thematisch nicht ganz passt…. Der ausgeteilte Fragebogen zum Nachdenken traf auf Skepsis, eine besonders bockige Dame machte ihrer Unmut bereits Luft. Die erste Geschichte rührte alle an, manche begannen einen zarten Applaus. Meine Moderation als Anregung zum Austausch stachelte die widerspenstige Dame zu bissigen Bemerkungen an, es entstand Unruhe. Ich leitete zum nächsten Programmpunkt über, die Unruhe hielt sich. Dann wollte ich zwei Seiten als 17 Kopien austeilen, aber der Kopierer hatte von beiden Blättern nur die Hälfte kopiert. Ich erklärte, dass der Text nur zum Mitlesen des nächsten Lieds gedacht sei, weil der Sänger manchmal nuschle und doch auch die höreingeschränkten Anwesenden alles verstehen sollen. Daher bat ich alle, zu zweit ein Blatt zum Mitlesen zu benutzen. Ich gab ganz gerecht jeweils zwei Sitznachbarinnen eine gemeinsame Kopie. Es gab einen Tumult, weil die spezielle Dame mit ihrem Mann auf den Zettel schauen wollte, nicht mit ihrer Nachbarin. Damit erhielten aber drei Damen über Eck gar kein Blatt, was schlichtweg unmöglich ist. Entweder schaute sie mit ihrer Nachbarin auf´s Blatt, oder sie wartete ab und ließ sich nach dem Lied die Kopie ihres Mannes geben, der es wiederum mit der Dame eine Reihe weiter teilte. Das war doch machbar?!
Die Situation eskalierte weiter.
Wir hörten das Lied an. Eine Dame meinte: „Schon ganz schön düster, dieser Text…“ Kurz darauf fragte sie, noch im Verklingen der letzten Töne, ob sie das Liedblatt mit nach Hause nehmen könne. Andere waren bewegt, manche hatten Tränen in den Augen. Ich teilte ein Arbeitsblatt aus und sagte, dass wir dabei einen Moment unseren eigenen Gedanken nachhängen können. Niemand musste etwas notieren, aber wer mochte, konnte dazu das Blatt nutzen. Die bestimmte Dame brach eine Diskussion vom Zaun, warum ich mit der Runde derartige Lebensfragen erörterte, wo ich doch wesentlich jünger bin und schlichtweg keine Ahnung von gar nichts habe?
Inzwischen war mein Kopf knallrot und ich zog ernsthaft in Erwägung, die Dame wahlweise zum Schweigen oder Verlassen des Raums aufzufordern. Ich führte die Veranstaltung professionell zu Ende durch, ließ einen Teil weg, und fand Abschiedsworte, die diese turbulente Stunde möglichst friedlich beendeten.
Eine Dame kam vorbei, während sich viele von mir verabschieden wollten und andere die Kaffeetassen einsammelten, und meinte: „Hoffentlich haben wie Sie heute nicht zu sehr aufgeregt…“

Tags darauf:
Ich besuchte eine Dame. Sie: „Marie, Sie hatten gestern soooo einen roten Kopf, ich dachte, Sie platzen gleich! Aber die Frau HFRZHJL auch immer…. schrecklich, dieses Benehmen! Und dann müssen Sie sie im Anschluss ja auch noch in der Englisch-Stunde ertragen!
Schauen Sie mal, ich habe hier so einen komischen Sss-näck. Der ist wie Chips, mit Kartoffeln, aber er schmeckt so… seltsam. Ich wollte gestern so gemütlich abends…. also…. (sie schaute mich scharf an und flüsterte) mit einem Schluck Wein…. nur EIN Schluck!!!… wollte ich es mir so gemütlich machen. Aber bäh, dieser Ssnäck…. ich bring Ihnen das mal!“ Schon zischte sie in die Küche, ich hinterher. Bedienen lasse ich mich von alten Damen nicht!
„Hier, Marie, ich habe Ihnen wieder alle Zettelchen vom Teebeutel aufbewahrt, mit den Sprüchen… die können Sie doch so gut gebrauchen?! Mit den schlauen Sprüchen, Sie haben doch für uns immer so weise Sprüche vorbereitet… Ist das albern, Marie? Ich mach das doch extra für Sie…“ Ich bestätigte, dass ich mich sehr über ihre treue Sammlung an abgerissenen Teebeutel-Zettelchen freute. Wirklich.
„Marie, Sie müssen mal dieses Zeugs probieren. Den Ssnäck. Hier.“ Sie hielt mir die Packung hin. Ich überlegte, ob ich wie immer ablehnte, weil ich ja gerade Mittag gegessen hatte. Was die reine Wahrheit war. Andererseits weiß ich genau, wie es um die Hygiene der Dame bestellt ist, daher lehne ich ihre Lebensmittel stets ab. Dieses Mal konnte ich mich wohl nicht retten…
„Frau lLGRV, das Produkt hat corn im Namen, das heißt Mais auf englisch.“ „Das kann ich doch nicht ahnen.“ „Ich meine, deswegen schmeckt es vielleicht anders, als Sie erwartet haben. Schauen Sie, hier ist noch so ein Bild im Kreis, da steht aus sonnenverwöhntem Mais, handverlesen und gestreichelt.“ „Ja ja, ich muss eben besser hingucken, aber ich wollte doch Geld sparen, das war im Angebot. Jetzt müssen Sie das auch essen!“
Ich fischte todesmutig ein seltsam geformtes Maisdings aus der fast leeren Tüte und steckte es mir in den Mund. Sie klammerte sich an meinen Arm: „Und ist es sehr schlimm? Sie können es auch ausspucken! Spucken Sie es in den Ausguss! MARIE! Los! Oder schnell ins Klo! Schnell!!!“ Sie drückte heftig und voller Sorge um mein Wohlergehen meinen Oberarm. Ich war etwas irritiert: Erst sollte ich es unbedingt probieren, aber kaum, dass ich es im Mund hatte, schnellstmöglich ausspucken? Ich winkte ab und meinte, so schlimm sei es doch gar nicht.

Was soll ich sagen: Weinen und Lachen liegen hier oft sehr eng beieinander….